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Lärmbewertung neu denken – Wahrnehmung als zentrale Dimension

Ein Kommentar von Prof. Dr.-Ing- Klaus Genuit

Die im Juni 2025 veröffentlichte Studie „Environmental noise in Europe 2025“ der Europäischen Umweltagentur (EEA) belegt auf bedrückende Weise die anhaltend hohe Belastung der europäischen Bevölkerung durch Umgebungslärm. Laut aktueller Daten des Umweltbundesamts (UBA, 2024) fühlen sich in Deutschland rund 16 Millionen Menschen durch Verkehrslärm erheblich gestört – mit nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen wie Schlafstörungen, erhöhtem Blutdruck und kardiovaskulären Erkrankungen.

Diese Zahlen zeigen die Dringlichkeit einer ernsthafteren und differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema Lärm. Die derzeitige Praxis stützt sich fast ausschließlich auf objektiv messbare akustische Parameter, insbesondere den energiebezogenen Schalldruckpegel (dB(A)). Diese Messgrößen sind unbestritten relevant, erlauben Vergleiche, Normierungen und die rechtliche Bewertung von Lärmexposition. Doch sie sind nicht hinreichend, um das Erleben von Lärm zu erfassen.

Aus psychoakustischer Sicht ist Lärm nicht nur eine physikalische Größe, sondern ein subjektiv erlebtes Phänomen. Ob ein Geräusch als belastend empfunden wird, hängt von zahlreichen Faktoren ab: Kontext, Kontrollmöglichkeit, Wiederholungsfrequenz, individuelle Erwartungshaltung, aber auch von soziokulturellen und emotionalen Bewertungen. Es ist ein Unterschied, ob das Geräusch eines Flugzeugs als technische Störung oder als Symbol von Mobilität wahrgenommen wird. 

Ein zukunftsweisender Ansatz, der diesen Erkenntnissen Rechnung trägt, ist der Soundscape-Standard DIN/ISO 12913. Er verknüpft physikalische Messverfahren mit qualitativen Methoden zur Erfassung subjektiver Wahrnehmung. Seit den 1990er Jahren wird in der Soundscape-Forschung an Bewertungs- und Gestaltungsstrategien gearbeitet, die über die reine Lärmvermeidung hinausgehen. Der Fokus liegt darauf, akustische Umgebungen aktiv zu gestalten – nicht nur durch die Reduktion unerwünschter Geräusche, sondern auch durch das gezielte Einbringen positiver Klangquellen, etwa Naturlaute oder Wassergeräusche. Die Norm legt hierzu ein Rahmenkonzept sowie methodische Leitlinien für Erhebung, Bewertung und Planung vor.

Zentral dabei ist die Einbindung der ortsansässigen Bevölkerung. Denn nur wenn die subjektiven Wahrnehmungen der Menschen systematisch erfasst und in die Planung einbezogen werden, entstehen Lösungen, die akzeptiert und langfristig wirksam sind. 

Der Soundscape-Ansatz bietet die Möglichkeit, Umweltgeräusche nicht ausschließlich als Belastungsfaktor zu betrachten, sondern als Gestaltungselement unseres Lebensraums. Ein solcher Perspektivwechsel ist überfällig. Denn hörbare Lebensqualität entsteht nicht allein durch das Entfernen von Lärm – sondern durch das bewusste Gestalten akustischer Vielfalt – angepasst an Ort, Nutzung und Menschen.


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